Mein Graz Mir war persönlicher Kontakt zu Menschen, zu den Bürgerinnen und Bürgern von Graz, immer das Wichtigste. Ich bin so oft wie möglich in den Stadtbezirken, besuche Leute, halte Sprechstunden ab, rede mit Menschen, die Probleme und Sorgen haben. Ich brauche keine Studien, um zu wissen, wo der Schuh drückt. Dabei geht es nicht immer nur um die großen Dinge. Hier fehlt eine Stiege, da ist ein Nachbar zu laut, dort braucht jemand einen Lift oder es gibt ein Gebrechen im Haus. Ich mache mir dann oft vor Ort ein Bild. Wenn es einen Konflikt gibt, will ich beide Seiten hören. Ich treffe dabei auch Menschen, die einfach nur plaudern oder ihre Sorgen teilen wollen. Ich war auch deshalb immer so gern Grazer Kommunalpolitikerin, weil ich mein ganzes Leben hier verbracht habe. Ich liebe Gries, den 5. Grazer Bezirk, ich kenne die Menschen dort, die Gasthäuser, ich kenne jede Ecke. Doch nach meinen vielen Jahren in der Kommunalpolitik sind mir die anderen Viertel fast ebenso vertraut. Die einstigen klassischen Arbeiterbezirke Gries und Lend haben wegen der dort günstigeren Mieten viele Studierende und Familien aus anderen Herkunftsländern angezogen. Die Aufteilung der Stadt in Arbeiter- und bürgerliche Bezirke mit dem Fluss Mur als Grenze dazwischen verwischte vor allem dadurch. Die soziale Durchmischung förderte das Gemeinschaftsgefühl und das tat der Stadt gut. Bürgermeisterin werden In den Stunden nach der Grazer Gemeinderatswahl des Jahres 2021 ging mir vieles durch den Kopf. Wer hätte gedacht, dass ich als erste Frau das Bürgermeisteramt meiner Heimat- und Lieblingsstadt übernehmen würde? Als KPÖ-Politikerin, als Tochter eines Schlossers? Wer hätte das gedacht, als ich in der Triestersiedlung aufwuchs, dort, wo es damals noch Baracken gab? Ich jedenfalls nicht. Schon mein Weg als Gemeinderätin ins Grazer Rathaus 1993 war für mich ein ungewöhnlicher gewesen. Bürgermeisterin zu werden war nie auch nur im Entferntesten ein Plan von mir. Der Moment im Fernsehstudio, als der Balken der Hochrechnung nach oben kletterte, war unwirklich für mich. „Das kann nicht sein“, sagte ich unmittelbar vor dem anschließenden Interview zu dem Moderator. „Da muss ein Irrtum vorliegen.“ Eine Reaktion, die folglich einige Journalistinnen und Journalisten an meiner Bereitschaft zweifeln ließ, das Amt auch wirklich zu übernehmen. Tatsächlich trug ich immer gern Verantwortung. Ich hatte einfach nicht mit diesem enormen Zuspruch gerechnet. Bürgermeisterin sein Als ich das Amt antrat, war mir bewusst, dass die Verantwortung groß ist und die Zeiten nicht einfach sind. Aber ich weiß, wie es ist, ins kalte Wasser zu springen. Da war immer auch sehr viel learning by doing. Tatsächlich haben wir Politikerinnen und Politiker oft den Anspruch an uns selbst, alles zu wissen. Als ich einmal zu einer Jubiläumsveranstaltung am Grazer Institut für Weltraumforschung eingeladen war, hatte ich keine Ahnung, was ich dort sagen könnte. Im Publikum saßen hochrangige Forscher, unter ihnen der künftige Nobelpreisträger Anton Zeilinger, der unmittelbar vor mir seine Festrede hielt. Was sollte ich diesen Menschen erklären? Mir wurde bewusst, dass es gar nicht darum ging, ihnen etwas zu erklären. Es ging viel eher darum, die Arbeit dieser Menschen zu würdigen und neugierig zu sein. Das ist ein wichtiger Aspekt jeder politischen Arbeit auf jeder Ebene, auch auf der einer Bürgermeisterin. Ich maße mir auch in der Politik nicht an, alles vollständig erklären zu können. Aber die Themen, mit denen wir uns seit Jahren befassen, gehören bestimmt zu den Gründen. Denn es sind genau die, um die es in meiner Bewegung immer gegangen ist: Wohnen, Arbeit, soziale Gerechtigkeit, Kinderbetreuung, Bildung. Es sind bodenständige Themen, die das Leben aller Menschen prägen. Wenn Politikerinnen und Politiker versprechen, sie würden in den kommenden vier oder fünf Jahren dieses und jenes umsetzen, obwohl das objektiv unmöglich ist, gehört das zum Schlechtesten, was sie tun können. Nicht nur für sich selbst, sondern auch für ihr Land oder ihre Stadt, für die Glaubwürdigkeit der Politik insgesamt und somit auch für die Demokratie. Wer Menschen zu oft enttäuscht, untergräbt das Vertrauen. Unter dem Strich hat sich für mich als Bürgermeisterin nur verändert, dass ich jetzt eine Reihe von neuen Aufgaben habe. Mein Stil und mein Umgang mit anderen Menschen sind gleichgeblieben. Mich in den politischen Elfenbeinturm zurückzuziehen, käme mir nie in den Sinn. Ich bin weiterhin persönlich für die Bürgerinnen und Bürger da. Spricht mich jemand im Bus wegen einer Gemeindewohnung an, schreibe ich mir die Telefonnummer auf, um einen Termin zu vereinbaren. Meine Handynummer steht nach wie vor im Telefonbuch und war auf unseren Wahlplakaten abgedruckt. Niemand außer mir selbst nimmt die Anrufe unter meiner Nummer entgegen. Etwas daran zu ändern käme mir nicht in den Sinn, ich will und kann mir meine Arbeit ohne den direkten Kontakt mit den Grazerinnen und Grazern auch gar nicht vorstellen. Das wäre dann nicht mehr meine Politik. Zusammen sind wir Graz Wir vergessen heute oft, welches Leid unsere Vorfahren in der Vergangenheit bereits erlebt und überstanden haben. Manchmal höre ich von jungen Menschen, wie bedrückt sie in die Zukunft blicken. Wird das jemals wieder eine lebenswerte Welt? Kann ich überhaupt noch die Verantwortung übernehmen, ein Kind in diese Welt zu setzen? Das sind ihre Fragen und ich verstehe sie. Viele Entwicklungen sind besorgniserregend. Daran gibt es nichts zu beschönigen. Wir alle wissen nur zu gut um die Probleme und spüren sie jeden Tag. Trotzdem ist es falsch, wenn wir in unseren Ängsten aufgehen oder wenn Politikerinnen und Politiker sie mit den falschen Botschaften sogar noch schüren. „Zusammen sind wir Graz“ das ist ein wichtiges Motto für mich, denn unsere Stadt wird nur dann eine gute Zukunft haben, wenn wir aufhören, Menschen in Schubladen zu stecken. Das Schüren von Feindbildern und das Ausspielen von Menschen gegeneinander sind längst nicht überwunden. Diese Denkmuster haben einen fruchtbaren Nährboden in der Verunsicherung, der Perspektivlosigkeit und der Ausgrenzung, die heute viele Menschen in aller Welt trifft. Viele haben sich von der Demokratie abgewendet. Das ist ein Alarmsignal für uns alle und gleichzeitig eine Verpflichtung, alles zu tun, dass Menschen nicht erniedrigt und klein gemacht werden. Dabei muss egal sein, woher jemand kommt und woran jemand glaubt. Es ist besonders in schwierigen Zeiten wichtig, alles zu tun, um jenen, die das nicht aus eigener Kraft können, eine lebenswerte Zukunft zu ermöglichen. Gemeinsame Werte Dazu gehört, alle bestmöglich zu unterstützen, die in eine Notlage geraten. Menschenrechte, eine intakte Umwelt, Bildung und Arbeit brauchen wir alle. Und ebenso wichtig ist es, für Frieden einzutreten. In Frieden zu leben ist leider keine Selbstverständlichkeit, wie wir alle wissen. Wir brauchen dringend eine Abrüstung der Waffen, aber auch der Sprache. Es ist wichtig, offen miteinander zu reden, anderen zuzuhören, andere Meinungen zuzulassen, nicht immer recht haben zu müssen. Aber in grundlegenden Fragen des Zusammenlebens brauchen wir bei allen Unterschieden, die es in einer Stadt mit Menschen aus über 160 Nationen gibt, eine gewisse Übereinstimmung, um gemeinsam eine lebenswerte Zukunft zu gestalten. Das ist, wenn man sich darum bemüht, auch möglich! Wir sollten uns Mut machen und uns auf die Möglichkeiten konzentrieren, die wir haben, um dort, wo wir leben, eine bessere Welt zu verwirklichen. Die globale Dimension vieler unserer Probleme mag erdrückend wirken und uns ein Gefühl von Ohnmacht geben, doch wir können unseren Blick immer auf das Nächstgelegene richten, auf die Menschen, unsere Natur, unsere Wirtschaft, auf Zusammenhalt, Nachhaltigkeit und Regionalität. Dann verschwindet das Gefühl von Ohnmacht, dann sehen wir, wie viel wir tun können, und durch das Tun verschwinden auch die Ängste und die Gefühle der Ohnmacht. Lokal ist global Ich bin Bürgermeisterin der Stadt Graz und für mich ist das die schönste Aufgabe der Welt, aber trotzdem bin ich nur eine kleine Kommunalpolitikerin. Im großen internationalen Spiel der Kräfte ist das nichts. Gleichzeitig ist es sehr viel. Denn nur dort, wo wir leben, können wir Veränderungen in Angriff nehmen und die Welt gestalten. 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